marie_a: (Default)
An das Baby
Kurt Tucholsky

Alle stehn um dich herum:
Fotograf und Mutti
und ein Kasten, schwarz und stumm,
Felix, Tante Putti...

Sie wackeln mit dem Schlüsselbund,
fröhlich quietscht ein Gummihund.
"Baby, lach mal!" ruft Mama.
"Guck", ruft Tante, "eiala!"

Aber du, mein kleiner Mann,
siehst dir die Gesellschaft an...
Na, und dann - was meinste?
Weinste.

Später stehn um dich herum
Vaterland und Fahnen;
Kirche, Ministerium,
Welsche und Germanen.

Jeder stiert nur unverwandt
auf das eigne kleine Land.
Jeder kräht auf seinem Mist,
weiß genau, was Wahrheit ist.

Aber du, mein guter Mann,
siehst dir die Gesellschaft an...
Na, und dann - was machste?
Lachste.
marie_a: (Default)
Merseburger Zaubersprüche
Unbekannter Verfasser

I
Eiris sazun idisi, sazun hera duoder.
suma hapt heptidun, suma heri lezidun,
suma clubodun umbi cuoniowidi:
insprinc haptbandun, invar vigandun.


II
Phol ende Wuodan vuorun zi holza.
du wart demo Balderes volon sin vuoz birenkit.
thu biguol en Sin<th>gunt, Sunna era swister;
thu biguol en Friia, Volla era swister;
thu biguol en Wuodan, so he wola conda:
sose benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki:
ben zi bena, bluot zi bluoda,
lid zi geliden, sose gelimida sin.


I
Einmal setzten sich Frauen, saßen hier, saßen dort.
Einige hefteten Fesseln fest, einige hielten das Heer auf,
einige griffen an die starken Stricke:
"Entspring den Fesseln, entkomm den Feinden!"


II
Vol und Wodan ritten in den Wald.
Da wurde dem Fohlen von Balder der Lauf verrenkt.
Da besprach ihn Sinthgunt, [und] Sonne, ihre Schwester;
da besprach ihn Freia, [und] Volla, ihre Schwester;
da besprach ihn Wodan, wie er es vollendet konnte:
"Wie die Knochenheilung, so die Blutheilung, so die Gliederheilung:
Knochen zu Knochen, Blut zu Blut,
Glied zu Gliedern, als ob sie aneinander geleimt seien!"
marie_a: (Default)
Mein Schleswig-Holstein, tief im Schnee versiegelt,
Wie lieb ich dann dich erst, mein Wiegenland:
Du hast die Türen alle fest verriegelt,
Und deine Knicks sind Wetterschirm und Wand
Bis sich in deinen Fenstern wieder spiegelt
Des Sommers roter Abendsonnenbrand.
Mein Schleswig-Holstein, tief im Schnee vermummt
Nie bist du laut, nun bist du ganz verstummt.
marie_a: (Default)
Languages
Carl Sandburg

There are no handles upon a language
Whereby men take hold of it
And mark it with signs for its remembrance.
It is a river, this language,
Once in a thousand years
Breaking a new course
Changing its way to the ocean.
It is mountain effluvia
Moving to valleys
And from nation to nation
Crossing borders and mixing.
Languages die like rivers.
Words wrapped round your tongue today
And broken to shape of thought
Between your teeth and lips speaking
Now and today
Shall be faded hieroglyphics
Ten thousand years from now.
Sing--and singing--remember
Your song dies and changes
And is not here to-morrow
Any more than the wind
Blowing ten thousand years ago.
marie_a: (Default)
Hochsommer
Emanuel Geibel

Von des Sonnengotts Geschossen
Liegen Wald und Flur versengt,
Drüber, wie aus Stahl gegossen,
Wolkenlose Bläue hängt.

In der glutgeborstnen Erde
Stirbt das Saatkorn, durstig ächzt
Am versiegten Bach die Herde,
Und der Hirsch im Forste lechzt.

Kein Gesang mehr in den Zweigen!
Keine Lilie mehr am Rain! -
O wann wirst du niedersteigen,
Donnerer, wir harren dein.

Komm, o komm in Wetterschlägen!
Deine Braut vergeht vor Weh -
Komm herab im goldnen Regen
Zur verschmachtenden Danae!
marie_a: (Default)
Im Süden
Friedrich Nietzsche

So häng' ich denn auf krummem Aste
Und schaukle meine Müdigkeit.
Ein Vogel lud mich her zu Gaste,
Ein Vogelnest ist's, drin ich raste.
Wo bin ich doch? Ach, weit! Ach, weit!
Das weiße Meer liegt eingeschlafen,
Und purpurn steht ein Segel drauf.
Fels, Feigenbäume, Thurm und Hafen,
Idylle rings, Geblök von Schafen, -
Unschuld des Südens, nimm mich auf!
Nur Schritt für Schritt - das ist kein Leben,
Stets Bein vor Bein macht deutsch und schwer.
Ich hieß den Wind mich aufwärts heben,
Ich lernte mit den Vögeln Schweben, -
Nach Süden flog ich über's Meer.
Vernunft! Verdrießliches Geschäfte!
Das bringt uns allzubald an's Ziel!
Im Fliegen lernt' ich, was mich äffte, -
Schon fühl' ich Muth und Blut und Säfte
Zu neuem Leben, neuem Spiel?
Einsam zu denken nenn' ich weise,
Doch einsam singen - wäre dumm!
So hört ein Lied zu eurem Preise
Und setzt euch still um mich im Kreise,
Ihr schlimmen Vögelchen, herum!
So jung, so falsch, so umgetrieben
Scheint ganz ihr mir gemacht zum Lieben
Und jedem schönen Zeitvertreib?
Im Norden - ich gesteh's mit Zaudern -
Liebt' ich ein Weibchen, alt zum Schaudern:
"Die Wahrheit" hieß dies alte Weib?
marie_a: (Default)
Abend
Andreas Gryphius

Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn /
Und führt die Sternen auff. Der Menschen müde Scharen
Verlassen feld und werck / Wo Thier und Vögel waren
Trawert itzt die Einsamkeit. Wie ist die zeit verthan!


Der port naht mehr und mehr sich / zu der glieder Kahn.
Gleich wie diß licht verfiel / so wird in wenig Jahren
Ich / du / und was man hat / und was man siht / hinfahren.
Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn.

Laß höchster Gott mich doch nicht auff dem Laufplatz gleiten
Laß mich nicht ach / nicht pracht / nicht luft / nicht angst verleiten.
Dein ewig heller glantz sei von und neben mir /
Laß / wenn der müde Leib entschläfft / die Seele wachen /
Und wenn der letzte Tag wird mit mir abend machen /
So reiß mich auß dem thal der Finsterniß zu dir.


Andreas Gryphius
marie_a: (Default)
Abschied
Robert Gernhardt

Ich könnte mir vorstelln,
mich so zu empfehlen:
Die Zeit. Ich will sie euch
nicht länger stehlen.
Den Raum. Ich will ihn euch
nicht länger rauben.
Den Stuß. Ich will ihn euch
nicht länger glauben.
marie_a: (Default)
Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs

Sonette find ich sowas von beschissen,
so eng, rigide, irgenwie nicht gut;
es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut

hat, heute noch so'n dumpfen Scheiß zu bauen;
allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,
kann mir in echt den ganzen Tag versauen.
Ich hab da eine Sperre. Und die Wut

darüber, daß so'n abgefuckter Kacker
mich mittels seiner Wichserein blockiert,
schafft in mir Aggressionen auf den Macker.

Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen:
Ich find Sonette unheimlich beschissen.
marie_a: (Default)
A Color of the Sky
Tony Hoagland

Windy today and I feel less than brilliant,
driving over the hills from work.
There are the dark parts on the road
when you pass through clumps of wood
and the bright spots where you have a view of the ocean,
but that doesn't make the road an allegory.

I should call Marie and apologize
for being so boring at dinner last night,
but can I really promise not to be that way again?
And anyway, I'd rather watch the trees, tossing
in what certainly looks like sexual arousal.

Otherwise it's spring, and everything looks frail;
the sky is baby blue, and the just-unfurling leaves
are full of infant chlorophyll,
the very tint of inexperience.

Last summer's song is making a comeback on the radio,
and on the highway overpass,
the only metaphysical vandal in America has written
MEMORY LOVES TIME
in big black spraypaint letters,

which makes us wonder if Time loves Memory back.

Last night I dreamed of X again.
She's like a stain on my subconscious sheets.
Years ago she penetrated me
but though I scrubbed and scrubbed and scrubbed,
I never got her out,
but now I'm glad.

What I thought was an end turned out to be a middle.
What I thought was a brick wall turned out to be a tunnel.
What I thought was an injustice
turned out to be a color of the sky.

Outside the youth center, between the liquor store
and the police station,
a little dogwood tree is losing its mind;

overflowing with blossomfoam,
like a sudsy mug of beer;
like a bride ripping off her clothes,

dropping snow white petals to the ground in clouds,

so Nature's wastefulness seems quietly obscene.
It's been doing that all week:
making beauty,
and throwing it away,
and making more.
marie_a: (Default)
Bach's B Minor Mass
Robert Bly

The Walgravian ancestors step inside Trinity Church.
The tenors, the horns, the sopranos, the altos
Say: "Do not be troubled. Death will come."

The old basses reach into their long coats
And give bits of old bread to the poor, saying,
"Eat, eat, in the shadow of Jethro's garden."

The German words remind us of the old promise
That the orphans will be fed. The oboes say,
"Oh, that promise is too wonderful for us!"

Don't worry about death. The tidal wave that
Wipes out whole cities is merely the wood thrush
Lifting her wings to catch the morning sun.

We know that God gobbles up the Faithful.
The Harvesters on the sea floor are feeding
All of those ruined by the depth of the sea.

Things go on and on. Even after their tree
Has splintered and fallen in the night, once
Dawn has come, the birds can do nothing but sing.
marie_a: (Default)
Bücher-menge
Friedrich Freiherr von Logau

Deß Bücherschreibens ist so viel; man schreibet sie mit hauffen.
Niemand wird Bücher schreiben mehr, so niemand sie wird kauffen.
marie_a: (Default)
Theodor Fontane


Die einen sagen, wir haben gewonnen,
Die andern sagen, sie haben gewonnen,
Ich aber sage das eine nur:
Es ward viel gelaufen bei Sherifmur,
Wir sind gelaufen und sie sind gelaufen,
Gelaufen einzeln und in Haufen.

Wir haben den linken Flügel geschlagen,
Der rechte Flügel hat uns geschlagen,
Eine Rennbahn war die ganze Flur,
Es ward viel gelaufen bei Sherifmur,
Wir sind gelaufen und sie sind gelaufen,
Gelaufen einzeln und in Haufen.

Rob Roy, o wärst du zu Hilf' uns gekommen,
Es hätt' ein andres Ende genommen,
So aber war das Ende nur:
Es ward viel gelaufen bei Sherifmur,
Wir sind gelaufen und sie sind gelaufen,
Gelaufen einzeln und in Haufen.
marie_a: (Default)
The Shrinking Lonesome Sestina
Miller Williams


Somewhere in everyone's head something points toward home,
a dashboard's floating compass, turning all the time
to keep from turning. It doesn't matter how we come
to be wherever we are, someplace where nothing goes
the way it went once, where nothing holds fast
to where it belongs, or what you've risen or fallen to.

What the bubble always points to,
whether we notice it or not, is home.
It may be true that if you move fast
everything fades away, that given time
and noise enough, every memory goes
into the blackness, and if new ones come-

small, mole-like memories that come
to live in the furry dark-they, too,
curl up and die. But Carol goes
to high school now. John works at home
what days he can to spend some time
with Sue and the kids. He drives too fast.

Ellen won't eat her breakfast.
Your sister was going to come
but didn't have the time.
Some mornings at one or two
or three I want you home
a lot, but then it goes.

It all goes.
Hold on fast
to thoughts of home
when they come.
They're going to
less with time.

Time
goes
too
fast.
Come
home.

Forgive me that. One time it wasn't fast.
A myth goes that when the years come
then you will, too. Me, I'll still be home.

marie_a: (Default)
Ein älterer, aber leicht besoffener Herr
Kurt Tucholsky

"Wie Sie mir hier sehn, bin ick nämlich aust Fensta jefalln. Wir wohn Hochpachterr, da kann sowat vorkomm. Es ist wejn den Jleichjewicht. Bleihm Se ruhich stehn, lieber Herr, ick tu Sie nischt - wenn Se mir wolln mah aufhehm... so... hoppla... na, nu jeht et ja schon. Ick wees jahnich, wat mir is: ick muß wat jejessen ham...!


Jetrunken? Ja, det auch... aber mit Maßen, immer mit Maßen. Es wah - ham Sie 'n Auhrenblick Sseit? - es handelt sich nämlich bessüchlich der Wahlen. Hips... ick bin sossusahrn ein Opfer von unse Parteisserrissenheit. Deutschland kann nich untajehn; solange es einich is, wird es nie besiecht! Ach, diß wah ausn vorjn Kriech... na, is aber auch janz schön! Wenn ick Sie 'n Sticksken bejleiten dürf... stützen Sie Ihnen ruhig auf mir, denn jehn Sie sicherer!


Jestern morjen sach ick zu Elfriede, wat meine Jattin is, ick sahre: "Elfriede!" sahr ick, "heute is Sonntach, ick wer man bißken rumhörn, wat die Leite so wählen dun, man muß sich auf den Laufenden halten", sahr ick - "es is eine patt... pathologische Flicht!" sahr ick. Ick ha nämlich 'n selbständjen Jemieseladn. Jut.


Kennen Sie Jöbbels?


Sie packt ma 'n paar Stulln in, und ick ßottel los. Es wird ein ja viel jebotn, ssur Sseit... so ville Vasammlungen! Erscht war ich bei die Nazzenahlsosjalisten. Feine Leute. Mensch, die sind valleicht uffn Kien! Die janze Straße wah schwarz... un jrien... von de Schupo... un denn hatten da manche vabotene Hemden an... dies dürfen die doch nich! "Runta mit det braune Hemde!" sachte der Wachtmeister zu ein. "Diß iss ein weißes Hemde!" sachte der. "Det is braun!" sachte der Jriene. Der Mann hat ja um sich jejampelt mit Hände und Fieße; er sacht, seine weißen Hemden sehn imma so aus, saubrer kann a nich, sacht a. Da ham sen denn laufen lassen. Na, nu ick rin in den Saal. Da jabs Brauselimmenade mit Schnaps. Da ham se erscht jeübt: Aufstehn! Hinsetzn! Aufstehn! Hinsetzn! weil sie denn nämlich Märsche jespielt ham, und die Führers sind rinjekomm - un der Jöbbels ooch.


Kenn Sie Jöbbels? Sie! Son Mann is det! Knorke. De ham die jerufen: "Juden raus!" un da habe ick jerufen: "Den Anwesenden nadhierlich ausjenomm!" un denn jing det los: Freiheit und Brot! ham die jesacht. Die Freiheit konnte man jleich mitnehm - det Brot hatten se noch nich da, det kommt erscht, wenn die ihr drittes Reich uffjemacht ham. Ja. Und scheene Lieda ham die -!



Als die liebe Morjensonne

schien auf Muttans Jänseklein,

zoch ein Rejiment von Hitla

in ein kleines Städtchen ein...!



Na, wat denn, wat denn... man witt doch noch singen dürfn! Ick bin ja schon stille - ja doch. Und der Jöbbels, der hat ja nich schlecht jedonnert! Un der hat eine Wut auf den Thälmann! "Is denn kein Haufen da?" sacht er - "ick willn iebern Haufn schießen!" Und wir sind alle younge Schklavn, hat der jesacht, und da hat er ooch janz recht. Und da war ooch een Kommenist, den ham se Redefreiheit jejehm. Ja. Wie sen nachher vabundn ham, war det linke Oohre wech. Nee, alles wat recht is: ick werde die Leute wahrscheinlich wähln. Wie ick rauskam, sachte ick mir: Anton, sachte ick zu mir, du wählst nazzenahlsosjalistisch. Heil!



Denn bin ick bei die Katholschen jewesn...



Denn bin ick bei die Katholschen jewesn. Da wollt ick erscht jahnich rin... ick weeß nich, wie ick da rinjekomm bin. Da hat son fromma Mann am Einjang jestandn, der hatte sich vor lauter Fremmichkeit den Krahrn vakehrt rum umjebunden, der sacht zu mir: "Sind Sie katholischen Jlaubens?" sacht er. Ick sahre: "Nich, daß ick wüßte..." - "Na", sacht der, "wat wollen Sie denn hier?" - "Jott", sahre ick, "ick will mir mal informieren", sahre ick. "Diß is meine Flicht des Staatsbirjers."



Ick sahre: "Einmal, alle vier Jahre, da tun wa so, als ob wa täten... diß is ein scheenet Jefiehl!" - "Na ja", sacht der fromme Mann, "diß is ja alles jut und scheen... aber wir brauchen Sie hier nich!" - "Nanu...!" sahre ick, "sammeln Sie denn keene Stimm? Wörben Sie denn nich um die Stimm der Stimmberechtichten?" sahre ick. Da sacht er: "Wir sind bloß eine bescheidene katholische Minderheit", sacht er. "Und ob Sie wähln oder nich", sacht er, "desderwejn wird Deutschland doch von uns rejiert. In Rom", sacht er, "is et ja schwierijer... aber in Deutschland..." sacht er. Ick raus. Vier Molln hak uff den Schreck jetrunken.



Denn wak bei die Demokratns...



Denn wak bei die Demokratns. Nee, also... ick hab se jesucht... durch janz Berlin hak se jesucht. "Jibbs denn hier keene Demokratsn?" frahr ick eenen. "Mensch!" sacht der. "Du lebst wohl uffn Mond! Die hats doch nie jejehm! Und nu jippse iebahaupt nich mehr! Jeh mal hier rin", sacht er, "da tacht die Deutsche Staatspachtei - da is et richtich."



Ick rin. Da wah ja so viel Jugend... wie ick det jesehn habe, mußt ick vor Schreck erscht mal 'n Asbach Uralt trinken. Aber die Leute sinn richtich. Sie - det wa jroßachtich! An Einjang hattn se lauter Projramms zu liejn... da konnt sich jeder eins aussuchen. Ick sahre: "Jehm Sie mir... jehm Se mia ein scheenet Projamm für einen selbständigen Jemieseladen, fier die Interessen des arbeitenden Volkes", sahre ick, "mit etwas Juden raus, aber hinten wieder rin, und fier die Aufrechterhaltung der wohlerworbenen Steuern!" - "Bütte sehr", sacht det Frollein, wat da stand, "da nehm Sie unsa Projramm Numma siemundfürrsich - da is det allens drin. Wenn et Sie nicht jefällt", sacht se, "denn kenn Siet ja umtauschn. Wir sind jahnich so!" Diß is eine kulante Pachtei, sahre ick Ihn! Ick werde die Leute wahrscheinlich wähln. Falls et sie bei der Wahl noch jibt.



Denn wak bei die Sozis...



Denn wak bei die Sozis. Na, also ick bin ja eijentlich, bei Licht besehn, ein alter, jeiebter Sosjaldemokrat. Sehn Se mah, mein Vata war aktiva Untroffssier... da liecht die Disseplin in de Familie. Ja. Ick rin in de Vasammlung. Lauta klassenbewußte Arbeita wahn da: Fräser un Maschinenschlosser un denn ooch der alte Schweißer, der Rudi Breitscheid. Der is so lang, der kann aus de Dachrinne saufn. Det hat er aba nich jetan - er hat eine Rede jehalten. Währenddem daß die Leute schliefen, sahr ick zu ein Pachteigenossn, ick sahre: "Jenosse", sahre ick, "wieso wählst du eijentlich SPD - ?"



Ick dachte, der Mann kippt mir vom Stuhl! "Donnerwetter", sacht er, "nu wähl ick schon ssweiunsswanssich Jahre lang diese Pachtei", sacht er, "aber warum det ick det due, det hak ma noch nie iebalecht! - Sieh mal", sachte der, "ick bin in mein Bessirk ssweita Schriftfiehra, un uff unse Sahlahmde is det imma so jemietlich; wir kenn nu schon die Kneipe, un det Bier is auch jut, un am erschten Mai, da machen wir denn 'n Ausfluch mit Kind und Kejel und den janzen Vaein... und denn ahms is Fackelssuch... es is alles so scheen einjeschaukelt", sacht er. "Wat brauchst du Jrundsätze", sacht er, "wenn du'n Apparat hast!" Und da hat der Mann janz recht. Ick werde wahrscheinlich diese Pachtei wähln - es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolutzjon, aber man weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt se nich. Und das is sehr wichtig fier einen selbständjen Jemieseladen!



Denn wak noch bei die kleinern Pachteien...



Denn wah ick bei Huchenberjn. Sie... det hat ma nich jefalln. Wer den Pachteisplitter nich ehrt, is det Janze nich wert - sahr ick doch imma. Huchenberch perseenlich konnte nich komm... der hat sich jrade jespaltn. Da hak inzwischen 'n Kimmel jetrunken.



Denn wak noch bei die kleinern Pachteien. Ick wah bei den Alljemeinen Deutschen Mietabund, da jabs hellet Bia; und denn bei den Tannenberchbund, wo Ludendorff mitmacht, da jabs Schwedenpunsch; und denn bei die Häußerpachtei, die wähln bloß in Badehosn, un da wah ooch Justaf Nahrl, der is natürlicher Naturmensch von Beruf; und denn wak bei die Wüchtschaftspachtei, die sind fier die Aufrechterhaltung der polnschen Wüchtschaft - und denn wark blau... blau wien Ritter. Ick wollt noch bei de Kommenistn jehn... aber ick konnte bloß noch von eene Laterne zur andern Laterne... Na, so bink denn nach Hause jekomm.



Mutta hat valleicht 'n Theater jemacht...



Sie - Mutta hat valleicht 'n Theater jemacht! "Besoffn wie son oller Iiiijel -." Hat se jesacht. Ick sahre: "Muttacken", sahre ick, "ick ha det deutsche Volk bei de Wahlvorbereitung studiert." - "Besoffn biste!" sacht se. Ick sahre: "Det auch..." sahre ick. "Aber nur nehmbei. Ick ha staatspolitische Einsichten jewonn!" sahre ick. "Wat wißte denn nu wähln, du oller Suffkopp?" sacht se. Ich sahre: "Ick wähle eine Pachtei, die uns den schtarkn Mann jibt, sowie unsan jeliebtn Kaiser und auch den Präsidenten Hindenburch!" sahr ick. "Sowie bei aller Aufrechterhaltung der verfassungsjemäßichten Rechte", sahr ick. "Wir brauchen einen Diktator wie Maxe Schmeling oder unsan Eckner", sahre ick. "Nieda mit den Milletär!" sahre ick, "un hoch mit de Reichswehr! Und der Korridor witt ooch abjeschafft", sahre ick. "So?" sacht se. "Der Korridor witt abjeschafft? Wie wißte denn denn int Schlafzimmer komm, du oller Süffel?" sacht se.



Ick sahre: "Der Reichstach muß uffjelöst wern, das Volk muß rejiern, denn alle Rechte jehn vom Volke aus. Na, un wenn eener ausjejang is, denn kommt a ja sobald nich wieda!" sahre ick. "Wir brauchen eine Zoffjett-Republik mit ein unumschränkten Offsier an die Spitze", sahre ick. "Und in diesen Sinne werk ick wähln." Und denn bin ick aust Fensta jefalln.



Mutta hat ohm jestanden und hat jeschimpft...! "Komm du mir man ruff", hat se jebrillt. "Dir wer ick! Du krist noch mal Ausjang! Eine Schande is es - ! Komm man ja ruff!" Ick bin aba nich ruff. Ick als selbstänjdja Jemieseladen weeß, wat ick mir schuldich bin. Wollen wa noch ne kleene Molle nehm? Nee? Na ja... Sie missn jewiß ooch ze Hause - die Fraun sind ja komisch mit uns Männa! Denn winsch ick Sie ooch ne vajniechte Wahl! Halten Sie die Fahne hoch! Hie alleweje! Un ick wer Sie mal wat sahrn: Uffjelöst wern wa doch... rejiert wern wa doch... Die Wahl is der Rummelplatz des kleinen Mannes! Det sacht Ihn ein Mann, der det Lehm kennt! Jute Nacht -!"

marie_a: (Default)
The Burning of Paper Instead of Children
Adrienne Rich

I was in danger of verbalizing my moral impulses out of existence. --Daniel Berrigan, on trial in Baltimore

1.
My neighbor, a scientist and art-collector, telephones me in a state of
violent emotion. He tells me that my son and his, aged eleven and
twelve, have on the last day of school burned a mathematics textbook in
the backyard. He has forbidden my son to come to his house for a week,
and has forbidden his own son to leave the house during that time. "The
burning of a book," he says, "arouses terrible sensations in me,
memories of Hitler; there are few things that upset me so much as the
idea of burning a book."

Back there: the library, walled
with green Britannicas
Looking again
in Durer's Complete Works
for MELANCOLIA, the baffled woman

the crocodiles in Herodotus
the Book of the Dead
the Trial of Jeanne d'Arc, so blue
I think, It is her color

and they take the book away
because I dream of her too often
love and fear in a house
knowledge of the oppressor
I know it hurts to burn

2. To imagine a time of silence
or few words
a time of chemistry and music

the hollows above your buttocks
traced by my hand
or, hair is like flesh, you said

an age of long silence

relief

from this tongue this slab of limestone
or reinforced concrete
fanatics and traders
dumped on this coast wildgreen clayred
that breathed once
in signals of smoke
sweep of the wind

knowledge of the oppressor
this is the oppressor's language

yet I need it to talk to you

3.
People suffer highly in poverty and it takes dignity and intelligence
to overcome this suffering. Some of the suffering are: a child did not
had dinner last night: a child steal because he did not have money to
buy it: to hear a mother say she do not have money to buy food for her
children and to see a child without cloth it will make tears in your
eyes.

(the fracture of order
the repair of speech
to overcome this suffering)

4. We lie under the sheet
after making love, speaking
of loneliness
relieved in a book
relived in a book
so on that page
the clot and fissure
of it appears
words of a man
in pain
a naked word
entering the clot
a hand grasping
through bars:

deliverance

What happens between us
has happened for centuries
we know it from literature

still it happens

sexual jealousy
outflung hand
beating bed

dryness of mouth
after panting

there are books that describe all this
and they are useless

You walk into the woods behind a house
there in that country
you find a temple
built eighteen hundred years ago
you enter without knowing
what it is you enter

so it is with us

no one knows what may happen
though the books tell everything

burn the texts said Artaud

5.
I am composing on the typewriter late at night, thinking of today. How
well we all spoke. A language is a map of our failures. Frederick
Douglass wrote an English purer than Milton's. People suffer highly in
poverty. There are methods but we do not use them. Joan, who could not
read, spoke some peasant form of French. Some of the suffering are: it
is hard to tell the truth; this is America; I cannot touch you now. In
America we have only the present tense. I am in danger. You are in
danger. The burning of a book arouses no sensation in me. I know it
hurts to burn. There are flames of napalm in Catonsville, Maryland. I
know it hurts to burn. The typewriter is overheated, my mouth is
burning. I cannot touch you and this is the oppressor's language.

marie_a: (Default)
An die Parzen
Friedrich Hölderlin

Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
Daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
Doch ist mir einst das Heilge, das am
Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,

Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
Mich nicht hinab geleitet; Einmal
Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.
marie_a: (Default)
Oberon
Wilhelm Lehmann

Durch den warmen Lehm geschnitten
Zieht der Weg. Inmitten
Wachsen Lolch und Bibernell.
Oberon ist ihn geritten,
Heuschreckschnell.

Oberon ist längst die Sagenzeit hinabgeglitten.
Nur ein Klirren
Wie von goldnen Reitgeschirren
Bleibt,
Wenn der Wind die Haferkörner reibt.
marie_a: (Default)
Inserat

Die verehrlichen Jungen, welche heuer
Meine Äpfel und Birnen zu stehlen gedenken,
Ersuche ich höflichst, bei diesem Vergnügen
Wo möglich insoweit sich zu beschränken,
Daß sie daneben auf den Beeten
Mir die Wurzeln und Erbsen nicht zertreten.
marie_a: (Default)
Jittery
Jim Simmerman



Nancy takes me to a coffee shop called "Jitters"

which is, I'm thinking, like naming a bar "Drunk":

what you get when you get too much of what it is



they've got to give you — though that's just me

of course, going off. I'm feeling kind of drunk

on talk and too much coffee and Nancy's laughing



easy like she maybe thinks: okay. Me, I mean,

though I'm reading into things of course —

talk, laughter — speed-reading into things



what with all the coffee and little sleep

I'm running on of late. Things, their course,

have not been great though I'm feeling not



unhappy to be alive and not asleep and here

with Nancy blabbing out my life like some black

and white Karl Malden movie tough guy grateful



to finally confess and yes I'll obsess on

splitting that infinitive since Nancy knows

syntax ("syn-, together + tassein, to arrange");



Nancy knows yoga, Neruda, dogs, and yes

to the body's thoughtless crush on the world and

her smile flies open like a sun-flushed dove



and right, I know I talk too much and think

too much about what I'm thinking and not

enough about what I say, and simmer too long



in the crock of myself, which is right where I

get when I get this way and want to say

shut up, Simmerman, just shut up. . . .



Nancy takes me to a coffee shop.

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